Südlich der Rheinberge liegt eine schöne Kurstadt mit saftigen grünen Wiesen, herrlicher Architektur und unzähligen Heilquellen. Diese Stadt heißt Bad Kissingen und beherbergt seit dem 16. Jahrhundert, womöglich schon seit früher, Kurgäste. An der Fränkischen Saale liegend, ist Bad Kissingen zum weltberühmten Gesundheitszentrum geworden, das für seine ruhige Eleganz bekannt ist. Die Stadt wird jährlich von etwa 250.000 Menschen besucht. Was diese deutsche Kurstadt von anderen in Europa abhebt, ist ihre Bemühung, verschiedene Wege zu finden, wie die Chronobiologie in ihre Gesellschaft eingebunden werden kann.
Die Chronobiologie ist die Untersuchung darüber, wie die inneren Uhren im menschlichen Gehirn mit den Reizen der Umwelt interagieren. Jeder Mensch hat einen bestimmten „Chronotyp“, der angibt, zu welcher Tageszeit seine physikalischen Funktionen aktiv sind und wann sie einen bestimmten Aktivitätsgrad erreichen. Diese körperlichen Funktionen, die im Zusammenhang mit der äußeren Umgebung aktiviert oder deaktiviert werden, sind: Hormonspiegel, Körpertemperatur, kognitive Funktionen, Essen und Schlafen. Oft wird dieses Phänomen auf das Schlafen reduziert, wobei man sich mit „Lerchen“ auf Morgenmenschen (also solche, die früh aufwachen und morgens am aufgewecktesten sind) bezieht und mit „Eulen“ auf Abendmenschen (diejenigen, die abends sehr aufmerksam sind und oft sehr spät zu Bett gehen).
Dr. Kantermann
Dr. Thomas Kantermann, von der Universität Groningen in den Niederlanden, leitet den Prozess der Umstrukturierung des gesellschaftlichen Lebens in Bad Kissingen rund um den Schlaf und seine weitreichende Bedeutung. Kantermann und sein Team entwarfen Ende 2013 ein Stadtdesignprojekt auf Grundlage der neuesten Erkenntnisse der Chronobiologie (der Erforschung der circadianen Rhythmen und des menschlichen Schlafverhaltens), um ein Design zu entwickeln, das laut Kantermann eine Perspektive für zukünftige städtische Gesellschaften sein kann.
In der Hoffnung, Bad Kissingen zur ersten ChronoCity der Welt zu machen, hat Kantermanns Team beeindruckende Fortschritte erzielt, die neuesten chronobiologischen Forschungen in praktische Veränderungen zu übersetzen, die zu einer Harmonisierung von Bad Kissingens Schul- und Arbeitszeiten mit den natürlichen Schlafbedürfnissen der Anwohner führen.
Das ChronoCity-Projekt Bad Kissingen
Das Projekt Bad Kissingen hat zum Ziel, durch Schlafmangel verursachte Probleme zu lösen, indem sowohl das Verhalten als auch die Umgebung zur Analyse der Schlafstörungen herangezogen werden. Dr. Thomas Kantermann hat sich außerdem vorgenommen, unzählige Schlafinformationen aus der ganzen Stadt zu erhalten, um die Bedürfnisse der Bürger von Bad Kissingen besser miteinplanen zu können.
Es sind verschiedene Vorschläge gemacht worden, um die Gesundheit durch einen besseren Schlaf zu fördern, z.B.: Verbesserung der städtischen Beleuchtung; Veränderung der Schul- und Arbeitszeiten; bessere Bedingungen für Schichtarbeiter und Krankenhauspatienten. Obwohl sich diese Pläne noch in der Anfangsphase befinden, unterstützen sowohl der Bürgermeister als auch der Stadtrat dieses Projekt, was definitiv ein wichtiger Impuls für dessen Entwicklung ist. Der Bürgermeister ernannte Dr. Kantermann zum wissenschaftlichen Leiter des Projekts und unterzeichnete einen Brief, in dem er seine Unterstützung ausdrückt, um Ergebnisse zu erzielen, die in verschiedenen Lebensbereichen der Bürger wie Bildung, Arbeit, Wohlbefinden, Gesundheit, Mobilität und Schlaf angewendet werden können. Ist das Projekt erfolgreich, wird Bad Kissingen weltweit zum ersten Vorzeigemodell für andere Städte, die die Gesundheit ihrer Bürger mithilfe der Chronobiologie (und anderen Schlafforschungen) verbessern wollen und gleichzeitig einen positiven Einfluss auf die tägliche allgemeine Zufriedenheit und Produktivität der Bürger suchen.
Mehr über Chronotypen
Laut Dr. Kantermann gehört jeder Mensch einem bestimmten Chronotyp an. Es gibt unzählige verschiedene Chronotypen; außerhalb der eigenen Chronotyp-Bedingungen zu leben, kann gesundheitsschädigend sein. Zudem kann ein Leben jenseits der eigenen bevorzugten Schlafmuster Krankheiten wie Depression, Übergewicht und sogar verschiedene Krebstypen fördern. Warum haben also so viele Menschen Probleme damit, innerhalb ihres eigenen empfohlenen Schlafmusters zu schlafen, wo dies doch so viele Vorteile brächte?
”Die Studien in Bad Kissingen beschäftigen sich mit der Lichtmenge, der man ausgesetzt ist und deren Auswirkungen auf die verschiedenen Chronotypen.“ Ein modernes Leben bedeutet: früh aufstehen, lange Arbeitsschichten, späte Abende und alle möglichen Arten künstlicher Beleuchtung. Diese Faktoren machen es schwierig, ein Leben innerhalb der optimalen Schlafzyklen zu führen. Die meisten Leute sind weder Morgen- noch Abendmenschen, sondern liegen irgendwo dazwischen. Die Mehrzahl der Studien verortet 50% der Menschen eher in der Morgenkategorie und die anderen 50% eher in der Abendkategorie.
Personen, die den gleichen Chronotyp haben, egal ob sie Morgen- oder Abendtypen sind, haben ähnliche Zeitmuster in ihren Aktivitäten. Anders gesagt: Menschen mit dem gleichen Chronotyp schlafen, arbeiten, essen und betätigen sich sportlich etwa zur gleichen Tages- oder Nachtzeit. Forschungen haben auch festgestellt, dass der Chronotyp eines Menschen völlig unabhängig von seiner Ethnie, seinem Geschlecht oder dem sozioökonomischem Status ist. Das bedeutet, dass jeder Mensch einen ganz eigenen Chronotyp hat, aber es ist noch nicht geklärt, wie der Körper überhaupt dazu gekommen ist, dieses bevorzugte Schlafmuster zu entwickeln.
Schlaf-Rätsel
Menschen schlafen durchschnittlich 30 Prozent ihres Lebens. Und obwohl wir so viel Zeit mit Schlafen verbringen, verstehen wir noch nicht vollständig, warum wir eigentlich Schlaf brauchen.
Was wir wissen ist, dass wir, wenn wir nicht genug Schlaf kriegen, unter den Auswirkungen wie Gedächtnisschwäche, Übergewicht, Depression und Krebs leiden könnten. Laut Kantermann „hat die Einführung von künstlicher Beleuchtung und die Umstrukturierung unserer Arbeitszeiten unsere Spezie zunehmend von dem 24-Stunden Zyklus aus Licht und Dunkelheit losgelöst… Im besten Fall tolerieren wir die Idee, dass wir schlafen müssen, im schlimmsten Fall sehen wir den Schlaf als Krankheit, die geheilt werden muss.“ Unsere Körper reagieren auf künstliches Licht nicht mit der selben Intensität wie auf natürliches Licht, weswegen eine Gesellschaft, die sehr auf elektrischem Licht basiert (wie die Gesellschaft, in der wir leben) eher Abend-Chronotypen hervorbringt als eine Gesellschaft, die sich mehr auf das Sonnenlicht verlässt. Aber die Leuchtstofflampen der typischen Bürogebäude decken den Bedarf von Morgen-Chronotypen besser ab. Hoffentlich werden diese Schlaf-Rätsel bald besser verstanden werden – in jedem Fall ist Dr. Thomas Kantermann die treibende Kraft hinter den Bemühungen, Bad Kissingen zur ersten ChronoCity der Welt zu machen.